"Tribunal" (André Georgi)




Was bedeutet diese Wertung?


Jasna Brandiç ist Ermittlerin. Ihr aktueller Fall und gleichzeitig auch der, der sie seit Jahren beschäftigt, sitzt in Untersuchungshaft vor den Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Marco Kovaç heißt er und ist des Mordes an fast 4.000 Menschen angeklagt - doch die Beweislage ist dünn, denn dieser Mann hat Macht. Kovaç' engste Vertraute, seine "Wölfe" sind immernoch auf freiem Fuß und arbeiten auch noch während der Haft für ihn weiter. Das Buch beginnt hoffnungsvoll. Die Ermittler sind sicher, dass sie Kovaç mit der Aussage eines Kronzeugen nun drankriegen können. Oreskoviç ist einer der "Wölfe", mitschuldig an unzähligen Kriegsverbrechen - und hat sich gestellt, um seine Aussage gegen Kovaç zu machen. Doch es kommt anders, denn der Kronzeuge und auch die Ermittlerin Jasna werden Opfer eines Anschlags, den der Zeuge nicht überlebt. Jasna Brandiç ist nun wieder fast am Anfang ihrer jahrelangen Ermittlungen. Und an dieser Stelle geht das Buch eigentlich erst richtig los. 



André Georgi stellt mit der Sprache Erstaunliches an. Wirkt es zu Beginn doch noch sehr befremdlich, dass er dem Leser die Szenen um die Protagonistin in abgehackter, teilweise ordinärer Sprache regelrecht vor die Füße wirft, so wird im Verlauf des Thrillers deutlich, dass sich der Erzählstil und sogar die Zeitform von Szene zu Szene ändern und dem Erzählten anpassend. Zu Beginn empfand ich es wirklich als störend, doch später wurde mir klar, dass dieses Vorgehen dem Ausdruck erstrecht einen individuellen Schliff verleiht und die Figuren lebendig werden lässt. Und diese Lebendigkeit ist manchmal mehr als erschreckend, wenn deutlich wird wie abgeklärt einige der "Wölfe" mit ihren Verbrechen umgehen, wie sie über ihre Gräueltaten denken, wie groß der Hass sein muss, den sie empfinden und empfanden und wie groß der Zusammenhalt mit ihrem "Führer" Kovaç, dem sie bedingungslos zu dienen scheinen. 



Dieses Buch ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch Aufklärung und ein großer Anstoß, um sich über die historischen Hintergründe zu informieren. Mir jedenfalls ging es so. "Tribunal" spielt vor der Kulisse des Bosnienkrieges zwischen 1992 und 1995, viele Namen, die auch im Buch erwähnt werden, kennt man aus Geschichtsbüchern und Nachrichten, Namen wie Mladiç oder Miloseviç sind bekannt. Was aber in vielen Köpfen sicher schon wieder verdrängt worden ist, sind die mit dem Bosnienkrieg in enger Verbindung stehenden Begriffe der ethnischen Säuberungen, der Massenvergewaltigungen (gerade in Srebrenica), Folterungen, Völkermorde. "Tribunal" thematisiert genau diese Verbrechen und bringt sie in vielen Szenen mehr als deutlich zur Sprache. Diese direkte Ausdrucksform fand ich an dieser Stelle nicht nur äußerst stimmig in Verbindung mit dem Plot, sondern auch in aufklärerischem Sinne wichtig für das historische Bewusstsein der Leser. Der Bosnienkrieg war mir zur Zeit, in dem er geschah, nicht bewusst und auch jetzt habe ich mit den Begriffen dieser Zeit nicht sehr viel verbinden können. Doch "Tribunal" hat mein Interesse am historischen Hintergrund des Buches geweckt - und allein dafür hat es einen Zusatzpunkt verdient. 



Die Geschichte selbst kann man nicht losgelöst vom historischen Hintergrund betrachten, denn sie lebt davon und wurde so geschickt in diese Zeit und die Zeit danach platziert, dass sie mehr als glaubwürdig wirkt. Die Charaktere in der Erzählung sind äußerst vielschichtig, viele wirken durch ihre Arbeit und die Dinge, die sie gesehen haben, gebrochen oder in einer anderen Weise "verwundet". Jeder hat so sein Päckchen zu tragen, und man erfährt im Laufe des Buches dann auch was und warum - zumindest meistens. Der Autor hat die Geschichte nicht nur mit dem historischen Verlauf der Bosnienkriege verknüpft, sondern auch an ein anderes Buch und einen besonderen Ort angelehnt, "Die Brücke über die Drina", das ich selbst nicht kenne, das aber immer wieder erwähnt wird. Diese Brücke in Višegrad nimmt einen besonderen Stellenwert in der Handlung ein, denn dies ist der Ort, an dem Kovaç und die "Wölfe" die meisten ihrer Verbrechen begingen. 

Großartig ist nicht nur die Beschreibung der Handlung an sich, sondern auch die Darstellung der menschlichen Abgründe und all der Dinge, die Krieg und Fanatismus aus einem Menschen machen können. Die Beschreibungen sind prägnant und nichts für schwache Nerven. Im Fazit kann ich nur sagen - für Freunde des gepflegten Thrillers und historisch Interessierte ist das Buch dringend zu empfehlen. Höchstwertung von mir.

[zhu]


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